Liebe Geschwister,

wir feiern heute den Palmsonntag. Nun beginnt die heiße Phase der
Passionszeit, die Karwoche. In der täglichen Bibellese sind werden wir mit
hinein genommen in die letzten Tage des irdischen Lebens Jesu, wie sie der
Evangelist Johannes erzählt. In diesen Tagen lesen wir von seiner
Gefangennahme, den Verhören, dem Todesurteil usw. Das alles erreicht am
Karfreitag seinen schaurigen Höhepunkt. In dieser Woche begegnen uns in den
Bibeltexten die Leiden und Qualen, die Christus in seinem Prozess und den
Folterungen ertragen musste. Und zugleich begegnen uns unsere eigenen Nöte und
Ängste, körperlichen und seelischen Qualen, denen wir ausgesetzt sind. In allen
Stationen des Leidensweges Jesu, können wir unsere Gefühle und Empfindungen
wieder finden, meist um ein vielfaches verstärkt.

Nun stellt sich natürlich die Frage, wie es kommen konnte, das Jesus,
der Christus, der Sohn Gottes, der Messias, der Heiland und Erlöser der Welt,
solch einen Weg gehen musste. Wie konnte das alles so kommen, warum musste er
sterben und zuvor noch Qualen und Leid auf sich nehmen? In den Evangelien
finden wir verschiedene Zugänge, die uns die Zwangsläufigkeit verstehen lassen:
Jesu Auseinandersetzung mit den Mächtigen, seine Beliebtheit bei dem Volk und
seine notwendige Beseitigung, das Interesse der Römer am Frieden im Land. Theologisch
wird die Heilsbedeutung des Todes Jesu als des Todes Tod herausgearbeitet. In
den Evangelien nach Markus, Matthäus und Lukas erreicht der Weg Jesu seinen
Höhepunkt in der Gottesferne seines Todes.

Der vierte Evangelist, Johannes, geht – wie so häufig – in seiner
Darstellung des Lebens Jesu einen ganz anderen Weg. Aber auch er geht der Frage
nach, warum Jesus in den Tod gehen musste, warum er die Qualen und das Leid auf
sich genommen und wie es dazu kommen konnte. Der heutige Predigttext nimmt
diese Frage auf. Es ist der Anfang des sog „Hohepriesterlichen Gebets“ Jesu. Im
Johannesevangelium schließt dieses Gebet die „Abschiedsreden“, die Jesus seinen
Jüngern hält, ab (Kap 13-16). Nun betet Jesus für seine Nachfolger und die Kirche
zu Gott. Und in diesem Gebet geht es auch um seinen bevorstehenden Tod.

17,1      So redete Jesus, und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater,
die Stunde ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche;

17,2      denn du hast ihm Macht gegeben
über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben
hast.

17,3      Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott
bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.

17,4      Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir
gegeben hast, damit ich es tue.

17,5      Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die
ich bei dir hatte, ehe die Welt war.

17,6      Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt
gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein
Wort bewahrt.

17,7      Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt.

17,8      Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie
haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass
ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.

In diesen acht Versen dreht sich fast alles um das Wort „verherrlichen“
bzw. „Herrlichkeit“. Diese Begriffe kommen in den ersten fünf Versen fünf Mal
vor. Sie haben daher ein besonderes Gewicht. Von der Herrlichkeit bzw. dem
Verherrlichen ist in einer zweifachen Richtung die Rede: Zum einen ist es der
Vater, der den Sohn verherrlicht, zum anderen ist es der Sohn, der wiederum den
Vater verherrlicht. Wir wollen versuchen zu verstehen, was mit dieser
wechselseitigen Verherrlichung von Vater und Sohn gemeint ist, wie dies mit dem
Geschehen des Leidens und Sterbens Jesu am Kreuz im Zusammenhang steht und vor allem – das wichtigste, was das mit uns zu tun hat.

Jesus beginnt mit der Feststellung, dass die Stunde nun gekommen ist.
Es ist die Stunde des Abschieds, da er nun den Weg geht, von dem er von Anfang
an wusste. Er muss sich trennen, trennen von den Seinen, von denen, die ihm
nachfolgen, die ihn lieb gewonnen haben. Die Stunde ist da, die seinen
Leidensweg zu seinem Höhepunkt kommen lässt. Doch das verwundert: der Weg ins
Leiden wird hier als Verherrlichung dargestellt. Der Weg, der ans Kreuz führt,
der mit dem Tod endet, ist der Weg in die Herrlichkeit. Ganz im Gegensatz zu
den anderen Evangelien beschreibt Johannes dieses fast als eine Ruhmesstraße.
Natürlich geht es um das Leiden Christi, aber es wird nicht als etwas Dunkles
und Bösartiges beschrieben, sondern als der Weg, der ins Licht führt. Und so
bittet Christus seinen himmlischen Vater förmlich darum, „verherrliche mich,
deinen Sohn“. Es wirkt fast sarkastisch, denn das heißt zugleich: „Führe mich
in das Leiden hinein, bringe mich endlich bis zum Kreuz.“ Es scheint fast, als
habe der Tod hier schon allen Schrecken verloren.

Jesu Tod am Kreuz ist die Verherrlichung, die der Vater am Sohn
vollzieht. Und zugleich ist es die Verherrlichung, die der Sohn für den Vater
bewirkt. Ein wundersamer Gedanke. Aber er hat eine innere Stringenz, denn in
der Verherrlichung des Sohnes, die zugleich die Verherrlichung des Vaters ist,
kommt zu seiner Vollendung, was Gottes Weg mit der Menschheit immer gewesen
ist. Die Verse 4 und 5 bringen es auf den Punkt:
Auf Erden habe ich dich verherrlicht und das Werk vollendet, dass du
mir aufgetragen hast, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich,
bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
“ Mit
anderen Worten: Das Leben Jesu unter den Menschen, seine gelebte Zuneigung
Gottes zu denen Menschen, die ihm begegnet sind, seine Zeichenhandlungen, die
den Menschen Gottes Zuwendung und Sorge um seine Menschen verdeutlich haben,
seine Heilungen, die Gespräche, die Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit
führten. All dies war nur der Anfang. Schon sie haben der Verherrlichung des
Vaters gedient. Aber allein blieben sie unvollkommen.

Johannes betont es besonders: In Christus ist Gott ins Fleisch
bekommen, er selbst ist Mensch geworden. Wer Jesus Christus sieht, sieht den
Vater, den, der Mensch geworden ist. Gott selbst hat alle Trennung hinter sich
gelassen. Er selbst hat sich auf den weiten Weg zu uns Menschen gemacht. Er ist
geworden wie wir. Und dennoch, das alles bliebe unvollendet, unvollkommen,
Stückwerk, wenn er nicht unseren Weg bis zu Ende gegangen wäre. Es ist paradox,
aber in seinem Gebet bringt Jesus es zur Aussprache: Erst der Weg ans Kreuz,
mitten hinein in die Qual des menschlichen Daseins, ins Zentrum der
menschlichen Existenz, bringt Gottes Weg zum Menschen, ja bringt Gott selbst
zum Ziel. Am Kreuz ist Gott da, wo er hin wollte, nämlich ganz bei uns. Über
unserem Leben steht der Tod. Ihm können wir nicht entkommen. Er ist das Ziel,
auf das all unsere Leben und Wirken zuläuft. Und dieses Ende unseres Lebens hat
Gott für sich nicht ausgespart. Er wollte ganz so sein wie wir, darum ging er
unseren Weg bis zum bitteren Ende. Im Tod ist Gott ans Ziel gekommen.

Fragen wir nach dem Nutzen für uns, so bringt das V.2-3 zum Ausdruck:
Du hast ihm, dem Sohn, Macht gegeben über
alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast.
Das ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den
du gesandt hat, Jesus Christus, erkennen.
“ Jesus macht hier deutlich, dass
dieser Weg Gottes nicht nur ein Weg ist, den er selbst zu seinem Nutzen geht,
sondern er geht ihn für uns Menschen. Darin dass Gott uns bis in den Tod hinein
gleich wird, sollen wir das ewige Leben finden. Hier müssen wir einen weiteren
Aspekt mit hinzunehmen, mit dem Johannes die Jesusgeschichte erzählt: Ostern.
Das Johannesevangelium berichtet von Christus, von dem Mensch gewordenen Gott
aus der Perspektive der Auferstehung heraus. In dem Gott selbst den Weg des
Menschen bis zum Ende geht, bis in den Tod hinein, wird Gott zum Träger unserer
Qualen und Leiden. Gott selbst nimmt unsere Sorgen und Ängste, unsere
seelischen und körperlichen Leiden, unsere Trauer und unsere Mutlosigkeit auf
sich. Er teilt sie, ja sie werden zu seiner eigenen Trauer, zu seinen eigenen
Ängsten und Leiden, zu seinen Qualen.

Hier tritt die Dimension der Auferstehung hinzu. Gott selbst hat den
Tod hinter sich gelassen, indem er Christus vom Tode auferweckt hat. Er hat ihn
nicht im Grab gelassen, sondern hat ihn zu einem neuen, zu einem ewigen Leben
gerufen. Gott selbst ist von unseren Qualen, von unserer Trauer und unserem
Leid in ein neues Leben durchgedrungen. Wenn er nun alles mit uns teilt, wird
er uns auch das neue Leben, das ewige schenken.

Der Weg Christi ans Kreuz ist ein Weg zum Leben, zum neuen und zum
ewigen Leben, zum Leben in einer ganz neuen Dimension. Diesen Weg ist Christus
uns vorangegangen. Und wir dürfen ihm nachfolgen. Wir haben das Leben vor
Augen, das sich hinter dem Horizont von Leid und Schmerzen auftut. Um nicht
falsch verstanden zu werden: Der Weg Christi war ein Weg der Schmerzen, der
Pein und der Qual. Geißelung und Folter sind ihm nicht erspart geblieben. Ja
selbst den Tod hat er erlitten. So werden wir nicht mit einem Schlag von aller
Sorge befreit, aus aller Trauer herausgehoben, von allen Gebrechen befreit.
Aber Christi Gebet ruft uns zweierlei in Erinnerung: 1. Unser Weg ist nie ein
Weg ohne Gott. Er ist den Weg selbst vorausgegangen; und 2. Unser Weg für in
die ewige Herrlichkeit, wie Christus ihn voraus gegangen ist.
AMEN

(Jürgen Stolze)