26,36   Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach
zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.

26,37   Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an
zu trauern und zu zagen.

26,38   Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod;
bleibt hier und wachet mit mir!

26,39   Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete
und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!

26,40   Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu
Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?

26,41   Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist
willig; aber das Fleisch ist schwach.

26,42   Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater,
ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke,
so geschehe dein Wille!

26,43   Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller
Schlaf.

26,44   Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und
redete abermals dieselben Worte.

26,45   Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter
schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die
Hände der Sünder überantwortet wird.

26,46   Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.

 Liebe Geschwister,

 der Garten Gethsemane liegt am Fuß des Ölbergs in Jerusalem. Seine uralten Olivenbäume ziehen noch heute
unzählige Touristen an. Seine uralten Olivenbäume und das, was damals dort geschah – vor
fast 2000 Jahren.

Nach dem letzten Abendmahl mit
seinen Jüngern zieht sich Jesus dorthin zurück. Bevor sein Leiden, seine
Passion beginnt, sucht er noch einmal einen Rückzugs-ort auf. Einen solchen
Ort, einen Rückzugsort brauchen wir alle, wenn ein schwerer Weg auf uns wartet.
Keiner von uns kann sich einfach so in die Herausforderungen des Lebens
hineinstürzen. Einen solchen Ort, einen Rückzugsort brauchen wir alle. Doch
haben wir alle einen Rückzugsort – einen Ort, an dem wir uns vorbereiten können
auf das, was kommt, an dem wir uns stärken können für das, was kommt?

Jesus geht nicht allein in den
Garten Gethsemane. Er nimmt seine Jünger mit – alle außer Judas, der sich schon
vorher verabschiedet hat, der etwas anderes zu tun hat. „Setzt euch hierher,
solange ich dorthin gehe und bete“, sagt Jesus zu den Elf. Er will beten, und
seine Jünger sollen einfach unter den uralten Bäumen sitzen und warten. Es tut
gut, Menschen in seiner Nähe zu wissen – Menschen, die einfach da sind,
Menschen, die zu einem gehören, Menschen, denen man nichts erklären muss, die
auch nicht fragen. Doch wir wissen: So einfach ist das gar nicht. Es ist gar
nicht so einfach, für jemanden anderen da zu sein. Manchmal fehlt uns die Zeit
dazu, manchmal die Kraft und manchmal auch das Verständnis, warum ein Dasein
überhaupt nötig ist.

Menschen, die da sind, wenn
man sie braucht – das müssen übrigens nicht viele sein. Im Gegenteil: Zum
Anteilnehmen und Anteilgeben braucht es nur wenige. Bei Jesus waren es – genau
genommen – nur drei. Er bittet die Elf, in seiner Nähe zu bleiben, aber nur
drei von ihnen nimmt er noch ein Stückchen weiter mit: Petrus, Jakobus und
Johannes. Nur diese drei.

Wer könnten diese drei für
Euch sein? Hättet
Ihr drei Menschen, die Ihr noch ein Stückchen weiter mitnehmen könnten – in
Euren ganz persönlichen Raum der Stille und des Gebets, der totalen Offenheit
und des unbedingten Vertrauens? An den Ort, an dem man erkennen kann, wie es
einem wirklich geht, an dem man nicht stark, nicht entschlossen, nicht tapfer
sein muss, wenn einem etwas Schweres zugemutet wird? Wenn Euch jetzt drei Namen
einfallen, dann könnt Ihr euch glücklich schätzen. Es wäre schon ein Glück,
wenn es wenigstens einen gäbet, zu dem man sagen kann: „Bleibe hier und wache
mit mir, wache und bete.“

Petrus, Jakobus und Johannes
hat Jesus ganz eng an sich herangelassen. Doch dann geht er noch ein
Stückchen weiter in den Garten Gethsemane hinein, ganz allein. Dort wirft er sich auf die
Erde und betet. Er bittet seinen himmlischen Vater: „Lass diesen Kelch an mir
vorübergehen!“ Mit anderen Worten: „Bitte nicht! Bitte nicht ich! Bitte nicht
jetzt! Bitte nicht so!“ Jesus ist keineswegs von vornherein einverstanden mit
dem, was ihm da zugemutet werden soll: Verhaftung und Verhör, Spott und Folter,
Kreuz und Leid, Sterben und Tod. „Bitte nicht diesen Kelch“, sagt Jesus und
reagiert damit zunächst einmal genauso wie wir alle auf das zugemutete Schwere
in unserem Leben. Jesus erscheint hier nicht als der Held, den nichts schrecken
kann, sondern er bittet um Verschonung. Und er zeigt uns damit: So darf es
sein. Es ist erlaubt, dass wir aufbegehren gegen das Leid und den Schmerz, der
uns zugefügt oder auferlegt wird. Es ist erlaubt, dass wir nicht einverstanden
sind mit dem, was uns trifft. Es ist erlaubt, dass wir widersprechen. Gott im
Gebet zu widersprechen, das ist kein Unglaube, das ist nicht gottlos. Sondern
das gehört zu einem gelebten Glauben dazu. Dafür ist Jesus unser Zeuge. Dafür
können wir uns auf ihn berufen.

In den Garten Gethsemane hat
man eine Kapelle hineingebaut, die man die „Todesangstbasilika“ nennt. Hätte
man Petrus, Jakobus und Johannes ein Denkmal setzen wollen, es wäre vermutlich
ein Schlaflabor geworden. Denn ausgerechnet sie, Jesu engste Vertraute, die er
in schonungsloser Offenheit an sich heranlässt, ausgerechnet sie wachen und
beten nicht,
sondern sie schlafen ein. Sie sind ihrer Müdigkeit und Erschöpfung, sie sind
der Anforderung nicht gewachsen. Was für eine bittere Erfahrung muss das für
Jesus gewesen sein. Was für eine bittere Erfahrung muss das auch für die drei
Jünger gewesen sein. Das muss man einfach wissen und zugestehen: Wenn wir einen
anderen Menschen in allerbester Absicht in seiner Not begleiten wollen, dann
kann es vorkommen, dass wir daran scheitern, weil uns die totale Erschöpfung
übermannt. Und wenn wir andererseits auf die hellwache Nähe und Begleitung
eines anderen Menschen hoffen, weil wir selbst in der „Todesangstbasilika“
sitzen, dann müssen wir barmherzig sein, wenn sich unsere Hoffnung unter
Umständen nicht erfüllt. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!“

Im Garten Gethsemane hat Jesus
im Gebet und in Todesangst mit Gott gerungen. Zuerst hat er um Verschonung
gebeten, dann um Vertrauen. Zuerst hat er gebeten: „Bitte nicht!“, dann „Nicht
mein Wille geschehe, sondern deiner.“ Zuerst war Widerstand da, dann Ergebung.
Vielleicht ist es Euch aufgefallen: Es gibt da noch immer zwei
Willen: Jesu Willen und den des Vaters. Und diese beiden Willen wollen noch immer
Unterschiedliches. „Nicht mein Wille geschehe, sondern deiner“ – das bedeutet
keine völlige Übereinstimmung, kein vorbehaltloses Einverständnis, sondern es
bedeutet: „Wenn mein Wille nicht geht, dann eben deiner, du rätselhafter Gott,
der du trotz allem mein Vater bist.“ Jesus kapituliert nicht vor dem Willen
Gottes, sondern er lässt sich mit seinem eigenen Willen und mit seinen
Vorbehalten in den Willen des Vaters hineinfallen. Vielleicht kommt es allein
darauf an: Dass wir uns am Ende und trotz allem, was uns rätselhaft und unzumutbar
erscheint, in den Willen Gottes hineinfallen lassen – mit unserem eigenen Willen und mit unseren
Vorbehalten.

Im Garten Gethsemane kann man
nicht übernachten. Es gibt feste Öffnungszeiten für die zahlreichen Besucher
und irgendwann ist Schluss. Irgendwann müssen sich auch die uralten Olivenbäume
einmal erholen. Auch Jesus hat nicht im Garten Gethsemane übernachtet. Er hat
sich dort nicht versteckt. Nachdem er sich in den Willen Gottes hat
hineinfallen lassen, wird er, der eben noch gezittert und gezagt hat, ganz
stark und selbstbewusst. Jesus wartet nicht passiv auf sein Leiden, auf seine
Passion. Im Gegenteil. Er sagt zu seinen Jüngern: „Steht auf! Lasst uns gehen!
Siehe, er ist da, der mich verrät!“ Es ist ein Unterschied, ob sich jemand
geschlagen gibt, sich kraftlos in sein Schicksal fügt, oder ob er aufsteht und
aufrecht dem Unvermeidbaren entgegengeht. Mit geradem Rücken und erhobenem
Haupt. Selbstbestimmt, entschlossen, bereit. So geht Jesus denen entgegen, die
sich von Judas zeigen lassen, wo er ist und wer er ist.

Und dann wird Jesus abgeführt.
Seine Zeit im Garten Gethsemane endet. Sein Leiden, seine Passion beginnt.
Morgen werden wir uns in besonderer Weise daran erinnern – am Karfreitag. Unter
dem Kreuz. Unter seinem Kreuz. Beladen vielleicht mit unseren ganz eigenen
Kreuzen.
AMEN

(Jürgen Stolze)